In besonderer Sorge

Statement der europäischen Jesuitenprovinziäle
am 5. Dezember 2000 in Brüssel zum Thema Flüchtlinge

Wir schreiben anlässlich des Zwanzig-Jahr-Jubiläums des Jesuitenflüchtlingsdienstes, einer Einrichtung, die besonders dazu gegründet wurde, den Flüchtlingen beizustehen und sich ihrer Anliegen anzunehmen. Wir schreiben zugleich zu einer Zeit, da weltweit über 50 Millionen Flüchtlinge unterwegs sind, ohne das geringste Anzeichen, dass sich ihre Zahl vermindern würde. Wir schreiben in dem Bewusstsein, dass solch ein Angriff auf die menschliche Würde und die globale Solidarität herausfordern muss. Wir schreiben im Jubiläumsjahr 2000, wissend, dass die christliche Überzeugung, auf der unser Orden basiert und aus der heraus wir heute arbeiten, uns zu sprechen nötigt. Wir schreiben, weil die inakzeptable Kluft zwischen dem, was unsere Gesellschaft tun könnte, wenn sie wollte, und was sie tatsächlich tut, notgedrungen herausfordert.
Europa steht an einem Scheideweg: geographisch zwischen Ost und West, kulturell zwischen den verschiedenen Kulturen und zwischen reich und arm, Nord und Süd, hoch- und unterentwickelten Ländern. Dies kann eine Quelle sein für Konflikt und Spannung; die Kriege des letzten Jahrhunderts bezeugen, was geschehen kann, wenn man diesen Spannungen in Richtung Hass und Gewalttat freien Lauf lässt. So ein Scheideweg kann aber auch Beginn von Fortschritt und Idealismus sein. Die kulturellen Errungenschaften dieses Kontinents zeigen, was möglich ist, wenn Menschen ihrer Würde zu entsprechen suchen.

Die Ursachen

Die Ursachen des Flüchtlingsproblems sind komplex und einfach zugleich: Krieg, Unmenschlichkeit, Rassenhass, Hunger und härteste Armut. Es ist tragisch, dass Seite an Seite neben großen technologischen Fortschritten und wirtschaftlichem Wohlstand in der Welt so tiefes Leid besteht.

Die Zeichen der Zeit

Es gibt viele Aspekte zum Thema Flüchtlinge heute, die uns zu besonderer Sorge Anlass geben:
· Skrupelloses Schleppertum: Die per Gesetz versperrten Einfahrtsstraßen treiben die Menschen, die in ihrer Verzweiflung nach Europa wollen, in die Arme meist skrupelloser Schlepper. Der Versuch der europäischen Regierungen, den Menschenschmuggel zu unterbinden, macht die Methoden illegalen Grenzübertritts zunehmend gefährlicher und teurer. Die jüngste Entdeckung von 58 Menschen in Dover, die in einem Container erstickten, schockiert uns alle. Aber wir müssen etwas tun und dürfen uns nicht mit diesen Toten abfinden, wie mit einer Spitzenmeldung, die bald wieder vergessen ist.
· Thema für ein weiteres Europa: Als die Grenzen der westeuropäischen Länder dicht wurden, verlagerte sich das Problem weiter nach Osten. Polen, Ungarn und Tschechien fangen nun die Menschen aus Sri Lanka, Sudan und anderswoher auf. Viele suchen Arbeit, viele suchen Sicherheit, die meisten wollen weiter nach Westen.
· Globalisierung öffnet Märkte aber nicht Grenzen: Die Globalisierung öffnete die Grenzen für Informationen, für Kapital und Wirtschaftsgüter, nicht aber für Menschen. Flüchtlinge und Migranten sollen auf Distanz bleiben. Spitzfindige Maßnahmen wurde erfunden, um Neuankömmlinge draußen zu halten. Dazu gehören: Erschwerte Visabestimmungen, Abschreckungsmaßnahmen wie Vorenthaltung oder Kürzung von Sozialhilfen, Maßnahmen, durch die sich ein Staat aus der Verantwortung zieht, wie z.B. Vereinbarungen für die Wiederzulassung, Schutzbestimmungen, Sicherheit im Ursprungsland und in Drittländern. Besonders zu beachten ist die wachsende Zahl der Schubhäftlinge und aufgegriffenen Migranten.
· Medien können Vorurteile vergrößern: Die Medien müssen sich dessen bewusst sein, dass sie den Hass noch weiter entfachen und die übertriebene Angst noch steigern können. Dies kann zu Hasstiraden, Misstrauen und Gewalt führen. Besonders gilt dies für städtische Bereiche, die bereits benachteiligt sind, wo Menschen - fälschlich - fühlen, dass Flüchtlingen auf ihre Kosten entgegengekommen wird. Wo hingegen die Medien ausgeglichener berichten, können sie eine große Hilfe zur Integration von Flüchtlingen und Migranten in die örtliche Bevölkerung sein. Wir können Beispiele, wo dies geschehen ist, nur weiterempfehlen.
· Auch Armutsflüchtlinge bedürfen einer verständnisvollen Antwort: Zwischen denen, die fliehen, um ihr Leben zu retten, und denen, die aus Gründen der Armut fliehen, ist zu unterscheiden. Dennoch ist auch Flucht vor Armut legitim und bedarf einer doppelten Antwort: langfristig durch gutüberlegte Hilfsaktionen für die Entwicklungsländer, kurzfristig durch Mitleid mit einzelnen, die aus diesen Ländern ankommen.
· Bedarf an Zuzug: Einige europäische Länder bemerken nun, dass sie Einwanderer als eine wesentliche ökonomische Hilfe brauchen, schon aus demographischen Gründen. Dennoch sollten Migranten nicht nur aus ökonomischen Gründen willkommen sein, sondern auch als Menschen betrachtet werden, als Subjekte mit Rechten. Weiters ist zu bedenken: Wenn die Wirtschaft in der entwickelten Welt die hellsten und besten Köpfe aus den Entwicklungsländern anzieht oder gar aktiv abwirbt, kann es sein, dass diese Länder ihrer besten Talente beraubt und damit im eigenen Wachstum behindert werden.

Was ist zu tun?

· Wir begrüßen den Einsatz der EU-Staaten für die volle und umfassende Anwendung der 1951 in Tampere getroffenen Konvention.
· Die Einwanderungsgesetze in der EU - ein positiver Trend ist in Ländern wie Belgien, Spanien, Frankreich oder Italien festzustellen - sollten die Härten gegenüber den Migranten und abgewiesenen Asylwerbern, die nicht ausgewiesen werden können, mildern.
· Die harmonische Abstimmung der Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik sollte auf Fragen der Sicherheit und Gerechtigkeit aufruhen, aber auch die menschliche Not der Leute berücksichtigen. Migranten zulassen bedeutet nicht nur, sie nicht gewaltsam zurückschicken, sondern auch Wohnung beschaffen, soziale Dienstleistungen vorsehen, Erziehung und Recht auf Familienzusammenführung.
· Die Medien können dabei eine positive und konstruktive Rolle spielen, indem sie auf professionelle Weise mit Informationen versorgen. Wir fordern die Zustimmung der Medienfachleute in ganz Europa, genügend Raum für Berichte zum Thema Flüchtlinge zu bieten und mit JRS, UNHCR, ECRE und anderen zuständigen Einrichtungen zusammenzuarbeiten. Wir fordern sie auf, Begriffe und Phrasen zu vermeiden, welche die Angst vor Fremden aufheizen.
· Erzieher spielen eine Schlüsselrolle, wenn es darum geht, sicherzustellen, dass die kommende Generation eine verantwortliche und wohlinformierte Einstellung gegenüber Flüchtlingen und Asylwerbern bekommt. Wir fordern die Entwicklung geeigneter Programme auf allen pädagogischen Ebenen.

Zu den Zahlen

1999 wurden in den 15 EU-Staaten ungefähr 360.000 Asylanträge gestellt. In einer Welt mit rund 50 Millionen Vertriebenen ist dies ein kleiner Bruchteil und es ist wichtig, ein Gespür für die Proportionen zu erhalten.
Ferner ist nicht zu vergessen, dass in der Vergangenheit auch die Europäer Migranten waren. Geschätzte 50 Millionen wanderten zwischen 1800 und 1940 aus Europa aus, 17 Millionen aus England und Irland, 10 Millionen Italiener, 6,5 Millionen aus Spanien und Portugal, 6 Millionen aus Deutschland. Diese Auswanderung hielt in Ländern wie Spanien und Irland bis in die Siebzigerjahre an.

Abschließendes Ergebnis

Flüchtlinge gehören heute zu den am stärksten verletzten Menschen. Sie haben ihre Heimat verlassen, ihre Familien und bringen kaum Besitz mit sich. Vielleicht ist das Wichtigste, was sie verloren haben, ihre menschliche Würde. Wir müssen diese Würde respektieren, sicherstellen und aufwerten. Dadurch wird unsere eigene Würde erhöht, wir fördern menschliche Solidarität und bauen an einer gemeinsamen Zukunft.
Unsere heutige Welt steht vor einer Wahl: Wir können Barrieren aufrichten, Menschen ausschließen und andere hereinlassen. Wir können Mauern bauen, die immer höher werden müssen, je nach dem Lärmpegel derer, die draußen schreien; oder wir können an einer globalen Ordnung arbeiten, in der Gerechtigkeit und Gleichberechtigung herrschen und wo unser Glaube an unser gemeinsames Menschsein heilig gehalten und in den Strukturen unserer Gesellschaft konkretisiert wird. Die Geschichte hat uns gezeigt, dass die erste Wahl zu Krieg und Gewalttaten führt, der Weg zu friedlicher Entwicklung von der Entscheidung für die zweite Möglichkeit abhängt.

Zusammenfassung

· Wir appellieren an die Regierungen, die legalen Möglichkeiten des Zutritts nach Europa beiden freimütiger zu erweitern, Asylsuchenden und sozio-ökonomischen Zuwanderern.
· Wir fordern die Jesuiten auf, ihren ganzen Einfluss auf die öffentliche Meinung einzusetzen, dass man die Rechte derer, die ihre Heimat verlassen haben, besser geachtet werden.
· Wir bitten die Medien, dafür zu sorgen, dass alle Schlagzeilen, die Fremdenangst steigern, vermieden werden.
· Wir fordern, dass das Evangelium im Hinblick auf Menschenwürde und Gastfreundschaft die Leitlinie unseres Umgangs mit Migranten, Asylsuchern und Einwanderern sei.

Übers. aus dem Englischen von Michael Zacherl SJ


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